Rudolf Frieling
WIPE BOARD (erschienen in: "40JAHREVIDEOKUNST.DE - Teil 1", Karlsruhe 2006)


"Wie weit kann man ein Stilprinzip treiben? Wie oft die Logik der Montage auseinandernehmen, ohne daß das Ergebnis vorhersehbar wird? Volker Schreiner gelingt es seit den späten 1980er Jahren immer wieder, in kurzen, aber prägnanten Würfen, das elektronische Material und die entsprechenden Tools zur Verknüpfung des Materials als Thema ernst zu nehmen, ohne dabei eine Sekunde zu langweilen. Seine strukturalistischen Studien einer Materialität des elektronischen Bildes und der Immaterialität ganz traditioneller Werkstoffe bilden eine Art Grundlagenforschung und eine konsistente Werkgruppe. Im Schnitt musikalisch und rhythmisch, im Sujet bei aller Einfachheit immer wieder überraschend komplex, sind diese Videobänder voller blitzartiger Ironie.

In WIPE BOARD (1989), seinem erst zweiten Videotape, das nach WHITE SCREEN (1988) international auf Festivals für Furore sorgte, nehmen 130 Bildflächenwechsel den ‘Wipe‘, also die Wischblende, beim Wort. Der Screen mutiert zum Bild und dessen Abbild. In den Untiefen zwischen Bild, Abbild und Leerstelle schafft die Montage das unglaubliche Kunststück, Öffnungen und Schließungen eines Bildes - eines Fensters auf ein Bild oder ein Stück Welt - so zu kombinieren, daß sich der Zuschauer verblüfft die Augen reibt. Was habe ich gerade gesehen? Die Schnelligkeit der Bildwechsel erleichtert natürlich nicht die direkte Identifikation, aber immer tauchen bekannte Motive blitzartig wieder auf, die den Betrachter auf den schwankenden Boden der Realität zurückholen.

Wir befinden uns im wörtlichen Sinn in der Werkstatt des Künstlers. Das Material liegt ausgebreitet auf dem Tisch: Was in dem ersten Tape noch das weiße Blatt Papier war (WHITE SCREEN) ist nun die Analogie mit der Leinwand, der Pappe, den Rollen. Die Materialität word betont durch das Hervorheben erdfarbiger Flächen. Nichts ist künstlerisch skizziert, noch kein Strich, noch kein Farbkleks, nicht einmal eine Grundierung. Der Horror vacui des Anfangs und der leeren Fläche provoziert geradezu die entnervte Geste des Wegwerfens, des Abräumens - der Arm des Künstlers wird handgreiflich. Ein Neuanfang mit neuem Material muß her. Aus genau dieser jeder künstlerischen Arbeit innewohnenden Dynamik entwickelt Schreiner sein Bildmotiv. Alle Materialien dienen nur dem einzigen Zweck, ein potentielles Bild zu eröffnen, indem ein anderes verdeckt wird (abgeräumt wird). Die dialektische Bewegung des Zeigens durch das Verdecken kreiert eine Vorstellung unendlich geschichteter Ebenen, die furios von oben nach unten, von links nach rechts verschoben werden. Und nur im Dazwischen der laut rollenden Pappen erscheint das elektronische Rauschen durch die Bildebenen hindurch und konterkariert die scheinbare Handwerklichkeit, ja geradezu Handfestigkeit der Arbeitsschritte der Bildgestaltung. Am Ende sind es eben immer elektronische Zeilen, die das Monitorbild konstituieren. Schreiner liest die Zeilenstruktur des elektronischen Bildes also quer und setzt der gleichmäßigen Abfolge der 625 Zeilenmusikalische Interpunktionen entgegen. Gerade die Unvorhersehbarkeit von eingesetzten Materialien wie auch Schnittrhythmus machen diese frühe Videoarbeit zu einem Höhepunkt der Videokunst der 1980er Jahre.

Und doch verzichtet auch Schreiner nicht auf die Ahnung einer Abbildbarkeit. In raren Momenten wird dem voyeuristischen Blick für den Bruchteil einer Sekunde eine verzerrte Figur hinter Glas als Köder hingeworfen. Das Versprechen wäre demnach, daß erst im Durcharbeiten der Mechanismen der Bildverdeckung und -erzeugung die Möglichkeit zum Schauen gegeben wird.

Diese Ambivalenzen zwischen Abstraktion in Zeilen, Rastern, Moirés et cetera und Gegenständlichkeit berührt Schreiner in späteren Arbeiten immer wieder (OPEN UP, 1991, FOLDER, 1998). In SEESAW (1997) geht er dagegen den umgekehrten Weg und bietet konkrete Bildsequenzen an, nur um sie im Rhythmus zu abstrahieren. Er verbindet in einer erneut musikalischen Struktur drei Orte und drei Zeiten durch eine metronomische Sequenz. Wortfetzen und Musiktakte verbinden und trennen zugleich. Die vertrackte, aber konsequente und gleichmäßige (metronomische) Schnittfolge verbindet diese drei alltäglichen Orte nicht nur zu einer simultanen Zeit, sondern ebenso zu simultanen Zeiten und simultanen Orten. Aber weit entfernt von einer bewußt kontrastierenden Montage im Sinne Eisensteins untersucht Volker Schreiner eher, welche überraschenden Verbindungen sich durch die Parallelisierung unterschiedlichen Materials ergeben.

Dieser systematische, maschinische Zugang zur Neuordnung visuellen Materials ist ein Grundzug in allen Videoarbeiten Schreiners. Im Gegensatz zu künstlerischen Positionen, die dokumentarisch oder narrativ Bildfolgen montieren oder die eher malerisch die Kontinuitäten von Bildmaterialien durch die Collage von Bildebenen, Zeilen und Pixeln verfolgen, insistiert Schreiner auf dem Kader, dem grammatischen Prinzip des Schnitts und dem musikalischen Prinzip der Rhythmisierung. Man könnte ihn als Analytiker beschreiben, der sich dennoch der Poesie der überraschenden ‘Montagefunde‘ verschreiben hat.

Im Kontext anderer Positionen von seriellen Montagen (Peter Roehr) bis zum Film mit Found Footage (Girardet/ Müller) oder heute auch dem datenbankbasierten Film zeichnen sich die Videotapes von Volker Schreiner durch eine für die Videokunst zentrale Kombination von Musik, Poesie und modernistischer Analyse der eigenen Arbeitsbedingungen aus. Die Generation der Künstler, die sich in den 1980er Jahren dem Medium Video verschrieben haben, ist in den letzten Jahren von einem vor allem narrativen oder dokumentarischen Interesse in der Kunst an den Rand gedrängt worden. Ihr meisterhafter Umgang mit der Abstraktion und der maschinischen Poesie wird auf lange Sicht gesehen aber eine bleibende ästhetische Wirkung entfalten."